Centre Pompidou
Ausstellung
Centre Pompidou
Ausstellung
/ Allemagne / Années 1920
/ Nouvelle Objectivité / August Sander /
/ Allemagne / Années 1920 / Nouvelle Objectivité / August Sander /
(Deutschland / 1920er-Jahre / Neue Objektivität / August Sander)
Eine Ausstellung im Centre Pompidou
bis zum 5. September 2022
Eine Ausstellung über das Deutschland der 1920er-Jahre im Centre Pompidou? Das konnten wir uns natürlich nicht entgehen lassen! Auch wenn der Titel der Ausstellung nicht gerade „handlich“ ist…
Das Plakat zur Ausstellung zeigt das Gemälde einer rothaarigen Frau im roten Kleid, mit langen, rot lackierten Nägeln vor rotem Hintergrund. Es will gar nicht so recht zum Thema „Neue Sachlichkeit“ passen und deutet so schon an, dass uns eine zeitgeschichtliche Dokumentation erwartet, welche die zum Teil recht kontroversen sozialen Strömungen und deren Ausdruck in der Kunst anschaulich darstellt.
Centre Pompidou
Tickets
Zur Ausstellung
August Sander
Der „rote Faden“ der Ausstellung ist das Werk des Fotografen August Sander, der unter dem Thema „Menschen des 20. Jahrhunderts“ mittels Porträtfotografie den Versuch einer Kategorisierung der Bevölkerung in soziale Klassen und Berufe unternahm, wobei er sieben Gruppen und 45 Untergruppen definierte.
Er wird der „Neuen Sachlichkeit“ zugeordnet, einer Nachfolge- und zugleich Gegenbewegung zum Expressionismus, die ein neues Paradigma nach dem Ersten Weltkrieg repräsentierte. Geprägt wurde der Begriff „Neue Sachlichkeit“ durch den Historiker Gustav Friedrich Hartlaub, der 1925 in Mannheim eine Ausstellung mit diesem Titel organisierte.
Die Bewegung verbreitet sich schnell, wird von Theater, Musik und Literatur adaptiert und findet über Mode und Design ihren Weg ins Alltagsleben.
Daher werden neben Sanders Fotografien vielfältige Arbeiten anderer Künstler und Designer gezeigt, die ihn beeinflussten, mit denen er im Austausch stand oder die in derselben Zeit entstanden und ebenfalls zur „Neuen Sachlichkeit“ gehören.
Die Werke umfassen ein großes Spektrum von der Malerei und Grafik über Literatur, Theater und Mode bis hin zum Möbeldesign und zur Städteplanung. Dazu gehören unter anderem Gemälde des Malers Otto Dix, von dem das Motiv des Ausstellungsplakats stammt: ein Porträt der Tänzerin Anita Berber. Werke der „Kölner Progressive“, Fotografien von Bertolt Brechts Dreigroschenoper oder die Konzeption der Frankfurter Wohnsiedlung Römerstadt des Architekten Ernst May und der dazugehörigen Frankfurter Küche der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky fehlen hier aber auch nicht.
Kühl, pragmatisch, rational, standardisiert – dies waren die Stichworte der Neue Sachlichkeit. Das Individuelle weicht dem Seriellen, die Einzigartigkeit wird der Nützlichkeit, dem Brauchbaren geopfert.
Aber kann das auf Porträtfotografie wirklich zutreffen?
August Sander zeigt: Ja und nein. Ja durch das zugrunde liegende Projekt der Kategorisierung. Nein, denn die Gesichter sind alles andere als uniformiert und die Geschichten der Menschen sind es ebenso wenig.
Sander, geboren 1876 als Sohn eines Minenarbeiters im Westerwald, zeigt auf seinen wohl bekanntesten Werk drei junge Männer auf dem Land, „uniformiert“ im Sonntagsstaat. Nur wenig später werden sie zum Kriegsdienst eingezogen und einer von ihnen stirbt an der Front.
Die Arbeiterkinder im Ruhrgebiet, ein wenig zurückhaltend posieren sie an einer Straßenecke, das Bild „Arbeiterrat im Ruhrgebiet“ wirkt wie ein Blick in ihre Zukunft. Der Bäckermeister mit der großen Rührschüssel, wohlgenährt. Der „Handlanger“ mit schweren Backsteinen auf den Schultern und hartem Blick. Die ältere Frau, als „Frau im fortgeschrittenen Intellekt“ betitelt. Blinde und behinderte Menschen, eine Gruppe, die Sander damals, für uns heute schockierend, mit „Idioten, Kranke, Schwachsinnige, Material“ bezeichnete. Im Hinblick auf das aufkommende Dritte Reich erzeugt das Unbehagen, allerdings fotografierte Sander ab 1934 die Nationalsozialisten ebenso wie ihre Opfer, Verfolgte und Fremdarbeiter. Vielleicht auch deshalb wurden seine Werke von den Nazis mehrmals vernichtet und verboten.
Ja, August Sander teilte die Menschen, die er fotografierte, in Kategorien ein, sah sie als Repräsentanten eines Typs. Und doch zeigte er ihre Individualität.
Der andere Teil der Ausstellung lässt ähnliche Kontraste erkennen.
Der Trend zum Stillleben zum Beispiel – aber diese zeigen Gegenstände, die jemandem gehören, die benutzt werden, offene Konserven, eine frische Blume in einer Vase.
Frauen, die über ihren Beruf als Sekretärin oder Telefonistin definiert werden, aber auch auf dem Weg sind, für mehr Gleichberechtigung in der Arbeitswelt zu kämpfen. Männer und Frauen, die Geschlechterklischees verlassen und ihre Androgynität oder Homosexualität nicht mehr verstecken. Opfer des Kapitalismus, die als austauschbare Arbeitskräfte in Fabriken schuften – und als Kontrast ein lebendiges Nachtleben, Prostitution und sexuelle Fetische bis hin zu Abgründen wie Sadismus und Sexualmorden (dieser Teil der Ausstellung war übrigens zu Recht mit einem Warnschild versehen).
Fazit
Mir hat diese wirklich umfangreiche Ausstellung ein wichtiges Stück deutscher Zeitgeschichte, die Zeit zwischen den beide Weltkriegen, nahegebracht und mir eine neue Perspektive auf die enormen gesellschaftlichen Umbrüche in diesen Jahren vermittelt. Dafür musste ich also in Paris in eine Ausstellung gehen….
Mein Extratipp: Lege zwischen dieser Ausstellung und dem Besuch der Dauerausstellung eine Pause auf der unteren Dachterrasse (der mit dem Wasserbecken) ein, hier hast du einen tollen, offenen Ausblick auf Montmartre und Eiffelturm. Und gönn dir zum Abschluss einen Prosecco Kir im Restaurant George auf der obersten Etage. Megalecker und mit 10 Euro noch recht günstig. Mit dieser Aussicht lohnt sich der Besuch noch doppelt.
Eure
Anne
Text- und Bildrechte: © Céline Mülich, 2022
Mit Unterstützung von Anne Okolowitz
Wieder hat das Centre Pompidou auf keine Fotografie-Genehmigungs-Anfrage reagiert… 🤷🏻♀️